„Vom Fahren mit kleinen Booten“ von Jack London

Zum Seemann wird man geboren, nicht gemacht. Und mit “Seemann” ist nicht das durchschnittlich-tüchtige und hoffnungslose Wesen gemeint, das man heutzutage im Logis von Hochseeschiffen findet, sondern der Mensch, der ein aus Holz und Stahl und Tauwerk und Segel bestehendes Gefüge hernimmt und es zwingt, auf dem Meer seinem Willen zu gehorchen. Von den Kapitänen und Offizieren großer Schiffe abgesehen, ist derjenige, der mit kleinen Booten segelt, der wahre Seemann. Er versteht es – er muss es verstehen -, den Wind so zu nutzen, das er sein Fahrzeug von einem gegebenen Punkt zu einem anderen bringt. Er muss äber Gezeiten, Seegang, Strömungen und Barren, über Fahrrinnenbetonung und Tag- und Nachtsignale Bescheid wissen, er muss in der Wetterkunde bewandert sein, und er muss innig vertraut sein mit den Besonderheiten seines Bootes, die es von allen anderen unterscheiden, die je gebaut wurden. Er muss es beherrschen und es, als ein Beispiel unter unendlich vielen, in der Kreuz auf den neuen Kurs bringen kännen, ohne das es im Wind stehen bleibt oder zu weit abfällt.
Heutzutage braucht ein Matrose auf See nichts von diesen Dingen zu verstehen. Und er versteht auch nichts davon. Er pullt und hievt, wie man’s ihn heißt, schrubbt das Deck, pünt Farbe auf und klopft Rost. Er weiß nichts, und wenig interessiert ihn. Setzen Sie ihn in ein kleines Boot, und er ist hilflos. Er wird selbst auf dem Rücken eines Pferdes eine bessere Figur machen.

Ich werde nie mein kindliches Erstaunen vergessen, als ich zum ersten Mal einem dieser seltsamen Wesen begegnete. Es handelte sich um einen davongelaufenen englischen Matrosen. Ich war ein zwölfjähriger Junge und hatte eine gedeckte, 4,25 Meter lange Jolle, mit der zu segeln ich mir selbst beigebracht hatte. Ich saß ihm zu Füßen wie einem Gott, während er von fremden Ländern und Völkern erzählte, von Gewalttaten und haarsträubenden Stürmen auf See. Dann nahm ich ihn eines Tages in meinem Boot mit. Mit der hastigen Eile eines blutigen Anfängers setzte ich Segel und legte ab. Hier hatte ich einen kritisch beobachtenden Mann bei mir, der, dessen war ich mir sicher, in einer Sekunde mehr über Schiffe und Boote und das nasse Element wusste, als ich je wissen konnte. Nach einer Weile, während derer ich mich selbst übertraf, übernahm er Pinne und Schot. Ich saß offenen Mundes auf der kleinen mittleren Ducht und war bereit zu erfahren, was wahres Segeln sei.
Mein Mund blieb offen, denn ich erfuhr, wie sich ein richtiger Matrose in einem kleinen Boot machte. Er wußte sich nicht zu helfen, konnte die Schot nicht richtig bedienen, in den Böen brachte er das Boot mehrere Male fast zum Kentern und dann noch einmal um Haaresbreite, weil er aus Versehen das Segel halsen ließ; er wußte weder, wozu ein Schwert da ist, noch wußte er, das man in einem vor dem Wind laufenden Boot in der Mitte und nicht auf der Seite sitzen muss; und als wir schließlich zum Steg zurückkehrten, fuhr er mit voller Wucht dagegen, wodurch der Steven beschädigt und die Mastspur weggerissen wurde. Und dabei war er doch ein wirklicher, echter Matrose, der geradewegs vom weiten Meer kam!
Und das unterstreicht, was ich sagen will. jemand kann sein ganzes Leben im Logis großer Schiffe verbringen und doch nie wissen, was Seefahrt eigentlich ist.

Dann heuerte ich in dem Monat, als ich siebzehn wurde, als Vollmatrose auf einem Dreimastschoner an, der fär eine siebenmonatige Reise über den Pazifik und zurück bestimmt war. Wie mir meine Schiffskameraden prompt zu verstehen gaben, war es eine Unverschämtheit von mir, als Vollmatrose anzuheuern. Aber ich war ein Vollmatrose, so muss man es sehen. Ich hatte die richtige Schule durchgemacht. Ich brauchte nicht mehr als ein paar Minuten, um Bezeichnung und Verwendungszweck der paar neuen Leinen zu erlernen. Es war simpel. Ich tat nichts unüberlegt. Durch das Segeln in kleinen Booten hatte ich gelernt, das Warum und Weshalb von allem zu ergründen und zu lernen. Freilich, ich musste lernen, nach dem Kompaß zu steuern, was vielleicht eine halbe Minute dauerte; doch wenn es ans “Voll-und-bei” und “Hoch-am- Wind”-Steuern ging, konnte ich den Durchschnitt meiner Schiffskameraden schlagen, weil ich auf eben diese Weise immer gesegelt war. Binnen einer viertel Stunde konnte ich die Strichrose vorwärts und rückwärts aufsagen. Und sonst gab es während dieser siebenmonatigen Fahrt wenig mehr zu lernen als die ausgefallenen Zierknoten, wie etwa den komplizierten doppelten Talje-reepknoten und die Anfertigung verschiedener Arten von Platting und Taumatten. Der springende Punkt von alldem ist, das der wahre Seemann durch das Segeln mit kleinen Booten am besten geschult wird.
Und wenn jemand ein geborener Seemann ist und durch die Schule der See gegangen ist, kommt er sein ganzes Leben lang nicht mehr von der See los. Er hat ihr Salz in den Knochen, und er spürt ihren Geruch, und die See wird ihn rufen, bis er stirbt.

Was die Aufregung angeht, so trennen Welten ein Schiff in Seenot und ein kleines Boot, das auf einem vom Land eingeschlossenen Gewässer in Schwierigkeiten gerät. Aber wenn ich echte Spannung und echten Nervenkitzel haben will, ist mir ein kleines Boot lieber. Die Dinge ereignen sich viel schneller, und es sind nur wenige da, welche die Arbeit tun – und harte Arbeit, wie jeder weiß, der mit kleinen Booten segelt. Ich habe einmal die ganze Nacht, beide Wachen an Deck, während eines Taifuns vor der japanischen Käste durchgeschuftet und bin weniger erschöpft gewesen als nach zwei Stunden Quälerei auf einer 9 Meter langen Slup, Quälerei beim Segelreffen und Lichten von zwei Ankern vor Legerwall bei einem heulenden Südoststurm.
Harte Arbeit und Aufregung? Angenommen, der Wind wird abgedeckt und läßt gerade in dem Moment nach, da du mit deinem kleinen Boot bei starker Strömung und engem Raum durch eine Zugbrücke kreuzen willst. Sieh dir an, wie die Segel, auf die du angewiesen bist, lose schlagen vor plötzlicher Leere, und dann sieh, wie der boshafte Wind, um 90 Grad umgesprungen, mit einem ungestümen Stoä den Klüver back kommen läßt. Rund geht’s, und das Boot rauscht nicht durch die offene Zugbrücke, sondern treibt breitseits auf die dicken Dalben zu. Höre das Tosen des Wassers, das zwischen dem Brückenpfeiler durchrauscht. Und höre und sieh, wie das schöne, frisch gestrichene Boot gegen die Dalben kracht.

Spüre, wie der stämmige kleine Rumpf unter dem Anprall nachgibt. Sieh, wie das Schanzkleid eingedrückt wird. Höre, ‘wie die Segel reißen, und sieh, wie die schwarzen, vierkantigen Brückenbalken Löcher hineinbohren. Knack! Da bricht das Stengestag, und die Stenge kreist wie betrunken über dir. Nun hörst du ein Reiben und Knirschen. Wenn das so weitergeht, brechen auch noch die Steuerbordwanten. Nimm eine Leine – irgendeine Leine – und schlinge sie um einen Pfahl. Doch sie ist zu kurz. Du kannst sie nicht festmachen, läßt aber nicht los und rufst wie wild nach deinem Gefährten: er soll eine andere, längere Leine an dem Pfahl belegen. Halt aus! Du hältst aus, bis du purpurrot im Gesicht bist, bis es dir die Arme auszurenken scheint, bis dir das Blut aus den Fingerspitzen quillt. Aber du hältst durch, und dein Partner bringt die längere Leine und macht sie fest. Du richtest dich auf und betrachtest deine Hände. Sie sind ramponiert. Du kannst kaum die verkrallten Finger lockern. Es tut abscheulich weh. Aber du hast keine Zeit. Das Boot, das immer seinen eigenen Willen hat, schlägt gegen die mit Entenmuscheln bewachsenen Pfähle, die das Schandeck zu zerkratzen drohen. Jetzt heißt’s Piekfall fieren! Klüver nieder! Dann hantierst du mit Fallen und Leinen und zerrst und holst durch und hievst, und gereizt tauschst du Flüche mit dem Brückenwärter aus, der dir bei einem solchen Wortwechsel mehr als auf halbem Wege entgegenkommt. Und schließlich bist du nach einer Stunde durch, mit schmerzendem Rücken, schweißnassem Hemd und zerschundenen Händen, und gleitest friedlich dahin auf der sanften, freundlichen Flut, an nahen Ufern vorbei, wo die Kühe knietief im Wasser stehen und dich erstaunt ansehen. Aufregung! Arbeit! Kann man das überbieten an einem ruhigen Tag auf hoher See?

Es gibt so viele Überraschungen und Pannen bei einer dreitägigen Kreuzfahrt mit einem kleinen Boot, das es für ein großes Schiff auf dem offenen Meer fär ein ganzes Jahr reichen würde. Ich erinnere mich an die Jungfernfahrt mit einem 9 Meter langen Boot, das ich gerade gekauft hatte, Innerhalb von sechs Tagen hatten wir zweimal stürmischen Wind und zusätzlich einen tüchtigen Südwest- und einen starken Südoststurm. Die kurzen Unterbrechungen dazwischen waren absolute Flauten. Außerdem gerieten wir in den sechs Tagen dreimal auf Grund. Dann machten wir auf dem Sacramento an einem Steilufer fest, blieben bei laufender Ebbe zufällig an der steilen Böschung hängen und hätten uns fast seitlich überschlagen. In der Straße von Carquinez, wo der Anker in der bei Flaute und starker Strömung ausgewaschenen Stromrinne keinen Halt finden konnte, wurden wir gegen einen großen Kai getrieben und krachten und bumsten eine Viertelmeile weit dagegen, bis wir endlich wieder freikamen.
Zwei Stunden danach, in der Bucht von San Pablo, frischte der Wind auf, und wir mussten reffen. Es ist kein Vergnügen, ein Beiboot zu bergen, das bei schwerem Seegang und Sturm davonzutreiben droht. Das war unsere nächste Aufgabe, denn unser Beiboot schlug voll, und beide Schleppleinen, an denen wir es hinterherzogen, brachen. Als wir es endlich wieder hatten, waren wir fast tot vor Erschöpfung und hatten unsere Slup gewiß an allen Teilen vom Kiel bis zum Masttopp hart beansprucht. Und um alledem die Krone aufzusetzen, kollidierten wir, als wir unseren Heimathafen ansteuerten und eben die engste Stelle des San-Antonio-Creeks passierten, um Haaresbreite mit einem großen Schiff, das von einem Schlepper gezogen wurde. Ich bin ein ganzes Jahr auf weitaus größeren Schiffen zur See gefahren, doch in dieser ganzen Zeit ereignete sich kein solcher Zwischenfall.

Eigentlich sind die Zwischenfälle fast das Beste am Segeln mit kleinen Booten. Im Rückblick erweisen sie sich als Gipfel der Glückseligkeit. Wenn du sie erlebst, stellen sie deinen Charakter und dein Vokabular auf die Probe und können dich so mutlos machen, das du glaubst, die Götter hätten dich verlassen – aber danach, ah, mit welcher Lust erinnerst du dich dann an sie und mit welchem Genuß berichtest du anderen Seglern und Clubkameraden davon.
Ein schmaler, gewundener, sumpfiger Nebenarm; Niedrigwasser, Modder kommt zum Vorschein, darüber eine Schicht fauligen Schlamms; das Wasser verschmutzt und verfärbt durch die Brühe aus den Lohgruben einer nahegelegenen Gerberei; das Sumpfgras an beiden Ufern bunt, alle Farbtöne welkender Orchideen; eine wacklige, baufällige, uralte Pier und am Ende der Pier eine kleine, weiße Slup. Nichts Romantisches daran. Nicht die leiseste Andeutung von Abenteuer. Ein vorzügliches plastisches Argument gegen die angeblichen Freuden des Segelns mit kleinen Booten. Möglicherweise dachten Cludesley und ich an jenem trüben, düsteren Morgen daran, als wir aufstanden, um Frühstück zu machen und das Deck zu schrubben. Letzteres war meine Idee, aber ein Blick auf das dreckige Wasser und ein zweiter auf das frisch gestrichene Deck brachten mich wieder davon ab. Nach dem Frühstück begannen wir mit einer Partie Schach. Das Wasser fiel weiter, und wir spürten, das das Boot anfing, sich auf die Seite zu legen. Wir spielten weiter, bis die Schachfiguren umzufallen begannen. Das Schiff legte sich noch weiter äber, und wir gingen an Deck. Die Vor- und Achterleinen hatten keine Lose mehr. Während wir uns umsahen, bekam das Boot mit einem plötzlichen Ruck noch mehr Schlagseite. Die Leinen waren jetzt sehr steif.
“Sobald der Rumpf auf Grund kommt, härt das auf”, sagte ich. Cludesley maß außen an der Bordwand entlang mit einem Bootshaken die Wassertiefe.
“Zwei Meter”, verkündete er.
“Das Ufer fällt hier fast senkrecht ab. Das Erste, was auf Grund kommt, wird der Mast sein, wenn sich der Rumpf nach oben dreht.”
Ein unheildrohendes, kleines, knirschendes Geräusch kam von der Achterleine. Noch während wir hinschauten, sahen wir, das ein Kardeel zerfranste und brach. Da beeilten wir uns. Kaum hatten wir eine zusätzliche Leine zwischen Heck und Pier ausgebracht, da brach die erste vollends. Als wir dann um den Bug eine zweite Leine ausgebracht hatten, krachte auch dort die erste und brach ebenfalls. Danach war es ein Inferno aus Arbeit und Aufregung. Wir machten weitere Leinen fest, und immer mehr Leinen brachen, und das schöne Boot bekam immer mehr Schlagseite. Wir nahmen alle Reserveleinen, wir schoren Schoten und Fallen aus; wir holten sogar unsere zweizöllige Ankertrosse hervor; wir befestigten Leinen auf halber Hähe am Mast, darunter und darüber. Wir schufteten und schwitzten und äußerten beiderseits unsere tiefe Überzeugung, das uns die Götter mit ihrem Zorn straften. Bauerntölpel kamen auf die Pier und lachten über uns. Als Cludesley versehentlich eine Rolle Tauwerk äber das schräge Deck hinunterrutschen und in den ekelhaften Schlamm fallen ließ und sie, grün im Gesicht, wieder herausfischte, wieherten die Bauerntölpel noch lauter, und alles, was ich tun konnte, war, ihn davon abzuhalten, das er auf die Pier kletterte und einen Mord beging.
Als das Deck des Bootes senkrecht stand, hatten wir die Dirk am Baum ausgeschäkelt und sie an der Pier belegt; sie lief fast am Masttopp durch einen Block, und mittels einer Talje setzten wir sie steif durch. Die Dirk war aus Stahldraht. Wir waren überzeugt davon, das sie der Belastung standhalten wärde, aber wir bezweifelten das bei den Stagen, die den Mast stützten.
Bis zum völligen Niedrigwasser waren noch zwei Stunden Zeit (und es handelt sich um ein Springniedrigwasser), was bedeutete, das fünf Stunden vergehen mussten, bevor wir mit der Flut die Möglichkeit bekamen zu erfahren, ob sich das Boot aufrichten und seine normale Lage einnehmen würde oder nicht. Das Ufer fiel fast senkrecht ab, und auf dem Grund direkt unter uns hinterließ das rasch abflieäende Wasser den widerlichsten, übelriechendsten und übelaussehendsten Dreck, den man sich vorstellen kann. Beim Hinunterstarren sagte Cludesley zu mir:

“Ich liebe dich wie einen Bruder. Ich würde für dich kämpfen, für dich brüllenden Löwen gegenübertreten und den plötzlichen Tod auf dem Schlachtfeld oder in den Fluten auf mich nehmen. Aber trotzdem – fall mir nicht da rein.” Er schauderte zusammen, von Ekel geschüttelt. “Denn wenn du’s tust, bringe ich es nicht über mich, dich da rauszuziehen. Ich könnte es einfach nicht. Das wäre zu gräßlich. Ich konnte nur einen Bootshaken nehmen und dich runterdrücken, damit ich dich nicht mehr sehen muss.”
Wir saßen auf der Seitenwand der Kajüte, ließen die Beine übers Dach herunterbaumeln, lehnten uns mit dem Rücken gegen das Deck und spielten Schach, bis die Flut und die Talje an der Dirk es uns ermöglichten, das Boot wieder aufzurichten.
Jahre später geriet ich in der Südsee, auf der Insel Ysabel, in eine ähnliche mißliche Lage. Um den Kupferbeschlag reinigen zu können, hatte ich die Snark parallel zum Strand und zum Wasser hin trockenfallen lassen. Als die Flut kam, wollte sie sich nicht aufrichten. Das Wasser drang durch die Speigatten ein, stieg ßber das Schanzkleid und langsam weiter das schräge Deck empor. Wir verschalkten die Luke des Maschinenraums, und das Meer kam auch bis dahin und drüber weg und dem Kajßtniedergang und dem Oberlicht gefährlich nahe. Wir waren alle fieberkrank, aber wir liefen raus in die glühende Tropensonne und schufteten mehrere Stunden lang wie verrückt. Wir brachten unsere stärksten Trossen vom Masttopp zum Strand aus und holten sie mit unseren größten Taljen dicht, bis alles krachte, einschließlich unserer Knochen. Wir lösten uns ab und lagen da wie tot, dann standen wir wieder auf und hievten bis an die Grenze des Möglichen. Und schließlich – die tiefer liegende Reling war eineinhalb Meter unter Wasser, und die Wellen plätscherten schon gegen den Niedergang -, schließlich durchlief ein Zittern und Rucken das kleine, robuste Fahrzeug; es richtete sich auf, und die Masten zeigten wieder zum Zenit.
Beim Segeln mit kleinen Booten fehlt es nie an körperlicher Betätigung, und die harte Arbeit gehört nicht nur zum Spaß am Ganzen, sondern sie macht auch oft den Arzt überflüssig. Die Bucht von San Francisco ist kein Mühlenteich. Sie ist ein großes und windiges und wechselhaftes Gewässer. Ich erinnere mich daran, wie wir eines Winterabends versuchten, in die Mündung des Sacramento einzulaufen. In der Bucht war auf die Flut die Ebbe und nach ihr ein Springniedrigwasser gefolgt. Der Fluß aber führte Hochwasser, und als die Sonne sank, flaute der frische Westwind ab. Genau bei Sonnenuntergang standen wir bei einer leichten bis mittleren achterlichten Brise in der reißenden Strömung still. Wir befanden uns schon in der Flußmündung, aber es gab keinen Ankergrund, und bei abflauendem Wind trieben wir rückwärts, immer schneller. Beim letzten Windhauch gingen wir vor der Mündung vor Anker. Die Nacht senkte sich herab, schön und warm, und die Sterne leuchteten. Mein einziger Begleiter machte das Abendessen, während ich auf Deck alles vorbildlich aufklarte. Als wir uns um 21 Uhr schlafen legten, versprach das Wetter für morgen gut zu werden. (Wenn ich ein Barometer dabei gehabt hätte, wäre ich besser im Bilde gewesen.) Um zwei Uhr morgens aber sang der auffrischende Wind in den Wanten, und ich stand auf und steckte mehr Trosse. Nach einer weiteren Stunde war nicht mehr daran zu zweifeln, das wir einen Südoststurm zu erwarten hatten.
Es ist nicht schön, seine warme Koje verlassen zu müssen, um in einer dunklen, windigen Nacht von einem schlechten Ankerplatz wegzukommen, doch wir erhoben uns, denn es war notwendig, fanden zwei Reffs und begannen, den Anker aufzuholen.
Die Winsch war alt und der Zug durch Wind und anrollende Seen zu viel fär sie. Sie funktionierte also nicht, aber es war unmöglich, die Trosse Hand über Hand aufzuholen. Wir merkten es, denn wir machten den Versuch und zerschunden uns dabei die Hände. Jeder Seemann haßt es, einen Anker zu verlieren; es geht ihm nicht nur gegen den Stolz. Natürlich hätten wir eine Ankerboje ausbringen und die Trosse schleppen können. Statt dessen steckte ich noch mehr Trosse, unterstützte das Schwojen und ließ den zweiten Anker fallen.
Danach kamen wir auch kaum zum Schlafen, denn erst rollte es den einen und dann den anderen von uns aus der Koje. Die zunehmende Größe der Seen verriet uns, das wir vor Anker trieben, und als wir die ausgewaschene Fahrrinne erreichten, hatten wir im Gefühl, das unsere beiden Anker glatt darüber hinwegrutschten. Es war eine tiefe Rinne, deren Rand auf der anderen Seite so steil abfiel wie die Wand eines Canyons, und als unsere Anker auf diese Wand trafen, faßten sie und hielten. Doch als wir endgültig nicht mehr trieben, härten wir in der Dunkelheit achtern die Brandung ans Ufer donnern, und das war so nah, das wir das Beiboot näher heranholten.
Das Tageslicht zeigte uns, das zwischen dem Heck des Skiffs und der Vernichtung nur ein paar Meter lagen. Und wie es wehte! Zeitweise, in den Böen, muss der Wind eine Geschwindigkeit von 70 bis 80 Meilen pro Stunde – das sind ca. 65 Kilometer, also Stärke 12, d.h. Orkanböen erreicht haben. Doch die Anker hielten, und das so großartig, das wir schließlich befürchteten, die Beting würde glatt weggerissen. Den ganzen Tag über tauchte das Boot abwechselnd mit dem Bug und mit dem Heck unter, und erst am Nachmittag legte sich der Sturm nach einer wahnwitzigen letzten und schlimmsten Bö. Fünf Minuten lang herrschte absolute Flaute, und dann, mit der Plötzlichkeit eines Donnerschlags, pfiff der Wind – er hatte um 90 Grad gedreht – von Südwest, ein gewaltiger Sturm. Eine weitere Nacht dieser Art wäre uns zuviel gewesen, und so hievten wir bei einer wilden Kreuzsee von vorn die Anker von Hand. Es war nicht nur harte Arbeit, es war zum Erbarmen. Und ich weiß noch, das wir beide vor Schmerzen und Erschöpfung den Tränen nahe waren. Und als wir den ersten Anker kurzstag hatten, konnten wir ihn nicht ausbrechen. Zwischen den Seen, wenn der Bug eintauchte, holten wir die Trosse ruckartig durch. So versuchten wir es viele Male, mit dem Bug den Anker auszubrechen. Fast alles ging entzwei, aber der Anker hielt. Ein Poller wurde herausgerissen, das Schanzkleid krachte, und sogar die Scheuerleiste splitterte, aber der Anker hielt. Schließlich setzten wir das gereffte Großsegel, fierten etwas Kette weg – um ein paar hart erarbeitete Meter – und brachen den Anker segelnd aus dem Grund. Es war harte Arbeit, und ein paarmal fehlte nicht viel daran, das wir flach aufs Wasser gedrückt worden wären. Wir wiederholten das Manäver mit dem anderen Anker und flüchteten bei einbrechender Dunkelheit in den Schutz der Flußmündung.
Ich bin lange vor der Ära des Benzins geboren worden und aufgewachsen. Infolgedessen bin ich altmodisch. Ich ziehe die Segelboote den Motorbooten vor, und ich glaube, das das Segeln eine edlere, schwierigere und mehr Mut erfordernde Kunst ist als das Motorbootfahren. Die Verbrennungsmotoren werden allmählich idiotensicher, und es ist zwar unbillig zu sagen, daß jeder Idiot einen Motor bedienen kann, aber es ist billig zu sagen, daß fast alle Menschen das können. Anders verhielt es sich, wenn es ums Segeln geht. Mehr Geschick, mehr Intelligenz und weitaus mehr Erfahrung sind nötig.
Es ist die beste Schule auf der Welt für Jungen und Burschen und Männer. Wenn der Junge noch sehr klein ist, geben Sie ihm ein kleines unkompliziertes Boot. Alles weitere überlassen Sie ihm selbst. Man wird ihm nichts beizubringen brauchen.
Bald wird er ein kleines Behelfssegel setzen und mit einem Riemen steuern, und dann wird er anfangen, über Kiel- und Schwertboote zu reden, sein Schlafzeug mitzunehmen und die Nacht über an Bord bleiben zu wollen.
Aber haben Sie keine Angst um ihn. Er wird unweigerlich in Gefahren geraten und Unfälle erleben. Denken Sie aber daran, daß es im Kinderzimmer ebenso zu Unglücksfällen kommen kann wie auf dem Wasser. Es sind mehr Jungen an der Treibhauskultur gestorben als auf kleinen und großen Booten; und es sind mehr Jungen durch das Segeln starke und selbständige Männer geworden als durch Tennis und Tanzschule.
Und einmal Seemann, immer Seemann. Der Reiz des Salzwassers läßt nie nach. Ein Seemann wird nie so alt, daß es ihn nicht mehr locken würde, mit Wind und Wellen zu kämpfen. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Ich bin Viehzüchter geworden und lebe ein gutes Stück weg vom Meer. Doch ich kann ihm nur eine gewisse Zeit fernbleiben. Wenn einige Monate verstrichen sind, beginne ich unruhig zu werden. Ich ertappe mich dabei, das ich am hellichten Tag von den Ereignissen der letzten Kreuzfahrt träume oder mich fürage, ob die Streifenbarsche bei Wingo Slough standen, oder eifrig die Zeitungen nach Meldungen über den ersten Zug der Wildenten nach Norden durchstöbere.
Und dann werden plötzlich in aller Eile die Koffer gepackt, das Seezeug wird in Ordnung gebracht, und schon sind wir auf dein Wege nach Vallejo, wo die kleine Roamer liegt und wartet, immer darauf wartet, das das Beiboot längsseits kommt, das Feuer im Herd der Kombüse angezündet wird, das die Zeisinge abgenommen werden, das Großsegel vorgeheißt wird, wo sie wartet auf das Knattern der Reffbändsel, auf das Hieven und Ausbrechen des Ankers, auf das Drehen des Ruderrads, wenn sich die Segel fällen und sie mit der Bucht Kurs nach Norden oder Süden nimmt.
Jack London
An Bord der Roamer
Sonoma Greek, 15. April 1911

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